OHNE WARNUNG                         Der 1. Teil der Duke-Reihe
In Keene, einer kleinen verschlafenen Stadt in New Hampshire, herrscht das herrlichste Sommerwetter, doch Duke verkriecht sich in seinem abgedunkelten Zimmer. Er kann sich kaum bewegen, ohne dass Wellen von Schmerzen seinen Körper durchfluten. Die Abreibung, die er gestern in der Kiesgrube von seinen vermeintlichen „Freunden“ bekommen hatte, war heftig - zu heftig. In den Tagen der Heilung schwört er sich, nie wieder ein Opfer zu sein! Nie wieder ein Verlierer! Mit viel Einfallsreichtum und Finesse findet Duke Mittel und Wege, die perfekten Verbrechen zu inszenieren. Immer wieder findet er sich in Situationen wieder, die seine „dunkle Seite“ in ihm zum Handeln zwingen. Nur die Liebe kann ihn wieder auf die richtige Bahn bringen. Wird er diese finden? Das Buch nimmt den Leser mit auf eine spannende Reise quer durch die USA und begleitet Duke bei seiner Metamorphose vom schüchternen Jungen zum technisch versierten Computergenie, der mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und einer gehörigen Prise Gesellschaftskritik zu einem Bösewicht heranwächst, den man einfach mögen muss. Er gerät in einen Strudel von Gewalt, Liebe, Verlust, Abenteuern und der Suche nach sich selbst. Duke sucht nicht die Gewalt, aber sie findet ihn.
Kapitel 1 W eiße Federwolken am Himmel und leises Vogelgezwitscher wirken beruhigend, wenn man im Schatten alter Bäume auf einem Waldboden liegt und Zeit hat, das Blau über einem zu betrachten. Feuchtwarme Waldgerüche und der intensive Duft von blühenden Wildblumen lassen einen entspannen. Gerade kündigte sich die Sonne an, um den neuen Tag zu begrüßen. Doch an einen Genuss der Umgebung war in diesem Moment nicht zu denken. Schweißüberströmt vor Schmerzen fiel es ihm schwer, die Schönheit des anbrechenden Sommertages zu genießen. In den letzten Stunden verlor er stetig Blut und mit den immer heftiger werdenden Schmerzen konnte er kaum noch klar denken. Im satten Grün der Wiesen und Felder kann man barfuß laufen, um die Kraft der Pflanzen in sich aufzusaugen. Doch jetzt in diesem Augenblick war es umgekehrt. Die Kraft verließ ihn tröpfchenweise und die Erde saugte sie auf. Er düngte mit seinem Blut den Waldboden. Ohne seinen Gürtel, den er vor nicht allzu langer Zeit bei einem Straßenfest gekauft hatte ironischerweise mit lebenslanger Garantie wäre er wohl schon verblutet. Am Oberschenkel hatte er sich das Bein damit abgebunden, um die Blutungen halbwegs zu stoppen. Die versprochene Garantie sollte nicht hier und sicherlich nicht heute enden. Unkontrolliert vor Schmerzen liefen ihm Tränen über sein verschmutztes Gesicht und hinterließen kleine helle Streifen. Er biss die Zähne zusammen und Wut breitete sich in ihm aus, dass er sich in solch einer bescheuerten Lage befand. Gedanken kreisten in seinem Kopf und er bemerkte nicht, dass sich Fliegen über die süße, rote Abwechslung hermachten, die am Acht-Dollar- Lederdruckverband noch immer hervorquoll. Ohne es bewusst wahrzunehmen, tauchte er langsam ab in Ebenen zwischen Traum und Halluzination. Bilder kamen aus den tiefsten Winkeln seines Gehirns. Hinter seinen geschlossenen Augen erschienen sie wie vor einer Kinoleinwand. Er konnte sich nicht wehren, konnte sich nicht mehr konzentrieren. Eine Situation, die ihm Sorgen bereiten sollte. Hatte er gerade die Eintrittskarte für die letzte Vorstellung gelöst? Lief hier gerade der Abspann? Das kann es nicht gewesen sein. Nicht jetzt, nicht so, nicht hier in diesem Wald. Er war doch erst 16. Mehr und mehr lose Bilder reihten sich im Delirium zu einem Film zusammen. Er reiste einige Jahre zurück. In sein Bewusstsein schoben sich Erinnerungen an jenen Tag, der sein Leben für immer verändern sollte. Kapitel 2 Duke lebte mit seinen Eltern in einem verschlafenen Ort mit knapp 22.000 Einwohnern, sechs Kirchen und einem kleinen Flugplatz: Keene in New Hampshire. Der Ort hatte einen eigenen Charme. Nicht zu groß, dass man verloren geht, aber auch nicht so klein, dass jeder jeden kennt. Die typische Kleinstadt eben, wo Tante-Emma-Läden schließen müssen, weil Konsum- Imperien alle anderen verdrängt haben und man die einzige Hauptstraße herausputzt, weil zufällig das Rathaus dort steht. Und damit sich eventuell auch einmal ein Tourist nach Keene verirrt, versuchte man irgendwie den Charme der alten Zeiten zu erhalten. Das Haus, in dem Duke mit seinen Eltern wohnte, war schon immer in Familienbesitz gewesen und das bereits seit den Tagen, als die Vorfahren, die ihre Wurzeln in Europa hatten, in die Neue Welt auswanderten, um hier einen Neuanfang zu wagen. Das Grundstück war umrahmt von hohen Bäumen, die einen kleinen Hang hinaufwuchsen. Ein glasklarer Fluss schlängelte sich im Bogen am Haus vorbei und hinterließ den Eindruck, dass man sich auf einer Halbinsel befände. Das Haus lag nicht zu weit weg vom geschäftigen Ortskern. Hier herrschte noch die Ruhe, die anderswo selten geworden ist. Hektik war im Haus unbekannt und in Keene selbst wurde es nur aufregend, wenn es mal ein Fest gab. Duke war ein dunkelblonder Junge, nett, unauffällig und mit nur wenigen Hobbys. Er war ein Langschläfer und Träumer. Ein Einzelgänger, voller Ideen, Fantasien und doch immer mit dem Hang zur Perfektion, wenn er etwas anpackte. Zweierlei Dinge hasste er: seinen Vater, speziell, wenn dieser betrunken war, und den sonntäglichen Kirchgang. Das eine war nur peinlich und das andere reine Zeitverschwendung. Sein Vater arbeitete als Gabelstaplerfahrer in einem der Truckterminals am Ortsrand und seine Mutter als Verkäuferin in einem Antiquitätengeschäft im neuen Colony Mill Einkaufszentrum. Nicht gerade die perfekten Vorbilder für Duke, der aber noch zu unbedarft war, um hier zu erkennen, was er für Verlierer-Eltern hatte. Somit beschränkten sich seine Idole auf zweidimensionale Kino-Helden. Mit zunehmendem Alter versuchte er mehr und mehr seinen Eltern aus dem Weg zu gehen. Es nervte ihn, ihre täglichen Streitereien ertragen zu müssen. Schon lange hatte er aufgegeben zu verstehen, warum sich erwachsene Menschen stundenlang über die harmlosesten Angelegenheiten streiten. Wo lag der Sinn darin, sich ständig anzubrüllen? Letztlich war der Alkohol an allem schuld und sein Vater wurde mit jedem Jahr seltsamer. Das Haus, das über all die Generationen immer gepflegt worden war, verfiel zusehends, vom Grundstück ganz zu schweigen. Kaum war sein alter Herr von der Arbeit zurück, fing das Trinken an. Solange genug Bier im Haus war, hing der Haussegen gerade. Sollte aber auch nur ein Tag die tägliche Betäubung ausfallen, war die Hölle los. In solchen Momenten versuchte er immer einen großen Bogen um seinen Vater zu machen. Allzu oft gab es Ausbrüche, die bei Duke farbenfrohe Hautverfärbungen hinterließen. Im Alter von 12 Jahren zog er es vor, sich auf den alten Dachboden des Hauses zu verkriechen. Dort roch es muffig, nach abgestandener Zeit und gelebten Abenteuern. Doch hier fand er Dinge, die 100 Jahre und länger dort lagen und darauf warteten, von ihm neu entdeckt zu werden. Jedes Teil hatte seine eigene Geschichte und war einmal wichtig im Leben seines Besitzers, bis die Zeit es entwertete und als unmodern einstufte. Duke fühlte sich wohl inmitten all diesem alten Zeug. Hier konnte er von Abenteuern träumen, die er einmal erleben wollte. Es war für ihn Geschichte zum Anfassen. Das Schönste war die originale Reisetruhe, mit der seine Urgroßeltern von Europa nach Amerika gekommen waren. Diese Truhe wurde ein Symbol für ihn: ein Sinnbild für Freiheit, Unerschrockenheit und Mut zur Veränderung. Jedes Mal, wenn er dieses alte Relikt berührte, machte es ihn nur entschlossener, irgendwann selber einmal diesen Ort zu verlassen und in die weite Welt zu gehen. Schon wenn er mit dem Finger über die alte Truhe strich und langsam den Staub zwischen den Fingern rollte, zauberte es ihm ein Lächeln auf sein Gesicht. Hier war er für sich und in seiner eigenen Welt. An einem anderen Tag fand er zwischen all den alten Sachen ein Taschenmesser, das von da an sein täglicher Begleiter werden sollte. Doch der coolste Fund wurde eine alte Karte aus Europa, die er in sein Zimmer hing und jedes Mal beim Betrachten wusste, dass er irgendwann eine große Reise unternehmen würde. Und immer wieder konnte er sich für Sachen begeistern, die auf andere wahrscheinlich alt und ausrangiert wirkten. Doch er fühlte, dass diese vergessenen Dinge in einem anderen Leben eine wichtige Bedeutung hatten. *** Die Wandlung des ruhigen, fast scheuen Jungen zu einem selbstbewussten jungen Mann wurde durch ein Ereignis in Gang gesetzt, welches er mit 14 Jahren hatte. Die Sommerferien hatten gerade erst begonnen, als an einem schwül-warmen Vormittag ein paar Jungs vor seiner Garage erschienen, in der er sein Fahrrad putzte. »Duke, du alte Pfeife, hör auf dein Fahrrad zu putzen und komm mit uns mit.« Duke bildete mit seiner Hand einen schützenden Schirm gegen die Sonne, um zu erkennen, wer ihn rief. Es waren Typen aus seiner Klasse. Obwohl er alle Sechs schon länger kannte, hatte er nie zu ihnen gehört. Er war ausgeschlossen vom „harten Kern“. Und nun standen sie plötzlich vor seiner Garage und forderten ihn auf, mit ihnen loszuziehen. »Was habt ihr vor?«, fragte Duke vorsichtig. »Wir fahren in die stillgelegte Kiesgrube. Komm mit«, rief Kevin. »Was wollt ihr dort machen?«, wollte Duke wissen. »Nun hab dich nicht so albern. Oder hast du etwas Besseres vor?«, provozierte ihn Phil. Duke fragte sich, was die Gruppe wirklich beabsichtigte. Er wollte sich keine Schwierigkeiten einhandeln, wenn sie etwas vorhatten, das nach Ärger stank. Doch als Feigling wollte er auch nicht dastehen. Nicht, dass er unbedingt Kumpel brauchte, doch die Ferien total alleine zu verbringen war eventuell auch nicht wirklich verlockend. Kurzentschlossen fuhr er mit ihnen mit. Eventuell werden die Sommerferien ja doch spannender als erwartet, dachte er. Nach fünf Meilen erreichten sie die vollgelaufene Kiesgrube. Der alte Schwimmbagger war schon von Weitem zu sehen und rostete vor sich hin. Ein Monster aus einer anderen Zeit. Am Bagger angekommen, standen sie im Schatten und schauten zu den riesigen Schaufeln hoch, die mahnend in den Himmel ragten. Nur vom bloßen Anschauen kribbelte es unter Dukes Kopfhaut. Dann baute sich Phil grinsend vor ihm auf. »Wir haben ein Aufnahmeritual: Rauf auf den Bagger und von der letzten Schaufel in den See springen. Dann gehörst du zu uns.« Duke schüttelte den Kopf. »Jungs, das sind bestimmt 45 Fuß. Den Sprung überlebt keiner.« »Wir leben noch«, lachte Phil und schubste ihn dabei leicht von hinten. Wie bekloppt ist man denn da hochzuwollen, dachte sich Duke. Es sollte eine Probe werden, um den Zusammenhalt der Truppe zu festigen. Was eignet sich dazu besser als etwas Extremes, das zusammenschweißt? Und wenn man davon Narben bekommt, dann sind das nur Trophäen. Doch so nötig hatte er ihre Gesellschaft nun auch nicht und dachte sich: lieber ein gesunder Feigling als ein mutiger Krüppel. »Sorry, Jungs, aber das ist nichts für mich«, erklärte er ihnen. »Das ist nichts für mich«, äffte Kevin ihn nach. »Aussteigen ist nicht, hier wird sich nicht gedrückt«, meinte Martin. »Los, du jämmerliche Flasche, rauf da«, brüllte Steve ihm ins Gesicht. Duke spürte, dass der Ton deutlich schärfer wurde und wich vorsichtig einige Schritte zurück. »Kein Grund, uncool zu werden. Und nebenbei, ich muss nicht Teil eurer Clique werden.« Er hatte gerade vor, auf sein Fahrrad zu steigen, als er von hinten so kräftig geschubst wurde, dass er über seinen Drahtesel flog und im Dreck landete. »Oh, hat das wehgetan?«, fragte ihn Joe spöttisch. Alle anderen fingen an zu lachen. Duke realisierte gerade, dass keiner von ihnen wirklich vorhatte, mit einem Schwächling wie ihn die Gruppe zu vergrößern. Er sollte lediglich der Trottel der Woche werden. Sie waren von Anfang an davon überzeugt, dass er die Mutprobe nicht antreten würde. Sie wussten, dass er sich gerne überall anschloss, aber sich dünnmachte, bevor es zu Problemen kam. Duke war immer schlau genug gewesen, Ärger zu riechen und ihm aus dem Weg zu gehen. Bisher jedenfalls. »Tja, Duke, dann müssen wir dir wohl eine Abreibung verpassen«, sagte Steve lapidar. »Ja, jetzt gibt es eins auf die Fresse«, sang Tim im hohen Ton. Martin baute sich drohend vor ihm auf und sagte: »Also, letzte Chance auf den Bagger zu klettern.« Doch Duke sah nicht ein, sich einschüchtern zu lassen. Er hatte seine Entscheidung schon gefällt und wollte sich nicht bei einer dummen Mutprobe verletzen. An diesem Tag sollte sich alles ändern. Ihm wurde schlagartig bewusst, dass er hier in größten Schwierigkeiten war und die Sechs ernsthaft vorhatten, das, was sie sagten, auch umzusetzen. Nun hatte er zwei Möglichkeiten: entweder den Selbstmörderbagger hinaufzuklettern und für immer zum harten Kern zu gehören oder einen Trommelwirbel von Gliedmaßen über sich ergehen zu lassen. Nach Abschätzen der Überlebenschancen, Genickbruch oder blaue Flecke, entschloss er sich für Letzteres. Doch zu einfach würde er es ihnen nicht machen, schwor er sich. Er konnte in ihren Gesichtern ablesen, wie sie sich darauf freuten, ihn fertigzumachen. Als er sah, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballten, unternahm er einen kurzen Fluchtversuch. Dieser endete drei Sekunden später. Die Abreibung war heftig. Zu heftig. Zusammengerollt versuchte er sich so gut wie möglich vor den Schlägen zu schützen, doch gegen die Jungs hatte er nicht die geringste Chance. Nie gekannter Hass prallte auf ihn nieder. Gedemütigt und hilflos ließ er die Tritte und Schläge ohne Gegenwehr über sich ergehen. Der einzige Gedanke, den er hatte, war sich so gut es ging zu schützen und alles zu ertragen, bis es vorüber war. Nach Dukes Zeitempfinden dauerte es eine Ewigkeit, bis sie von ihm abließen. Die Form seiner Nase hält er heute für gelungen und schön, auch wenn er damals diese schmerzhafte „Schönheitsoperation“ mit einem Stiefel, Marke Riverbreaker, Größe 7, gerne vermieden hätte. In dem Moment, wo sie aufhörten auf Duke einzutreten, war nichts mehr wie vorher. Irgendetwas verlor er im Innersten, sie hatten etwas aus ihm herausgeprügelt. Er wusste nicht, was es war, doch von nun an lag ein Schatten auf seiner Seele. Wenn bis dahin 1000 kleine Kerzen das Gute in seinem Inneren erhellten, blies an diesem Tag ein kalter Wind die Mehrzahl davon aus und ließ etwas Dunkles in ihm zurück. Er sah die Welt nun aus einer anderen Perspektive – der eines Verlierers. Duke lag im Staub und krümmte sich vor Schmerzen. Nun zogen alle ihre Handys, um ein Foto von ihm zu machen, wie er verletzt dalag und litt. Johlend nahm Kevin das Fahrrad von Duke und schmiss es im hohen Bogen in den See. Genau das, was er jetzt noch gebrauchen konnte. 20 Sekunden später stiegen sie lachend auf ihre eigenen Fahrräder und kümmerten sich nicht mehr um ihn. Keiner der Sechs drehte sich noch einmal zu ihm um, als sie davon radelten. Nachdem er einige Minuten im Dreck gelegen hatte, wurde es Zeit, sich aufzurappeln und nach Hause zu gehen. Er reinigte sich ein wenig am See und ging stinksauer heimwärts. Der Weg zurück war schmerzhaft, alles tat ihm weh und er lief mit gesenktem Kopf. Dieser hing ihm soweit herunter, dass ein Fremder wahrscheinlich gedacht hätte, er wäre ohne Nackenmuskeln zur Welt gekommen. Doch niemand sah, wie er sich nach Hause schlich. Somit blieb ihm wenigstens diese Demütigung erspart. Seine Ausrede den Eltern gegenüber war, dass er eine Treppe hinuntergefallen sei. Dies war zwar nicht allzu glaubhaft, doch sein Stolz und sein ihm selbst gegebenes Versprechen, die Umstände zu verheimlichen, waren größer als der Schmerz. Doch ob er die Wahrheit gesagt hätte oder nicht, es spielte kaum eine Rolle. Die Anteilnahme seiner Eltern bestand nur darin, dass sein Vater ihn einen Idioten nannte mit dem Ratschlag, die Augen aufzumachen, wenn er seine Beine benutzte. Selbst seine Mutter war nicht viel feinfühliger in ihrer Wortwahl. Duke hatte an diesem Tag kurz das Gefühl, adoptiert zu sein. Selbst als sie ihn ins Krankenhaus fuhren, wo man ihm die Nase richtete, blieb er bei seiner Story, die ihm der Weißkittel aber nicht abkaufte. Doch Duke war zu stolz zuzugeben, dass er verprügelt worden war. *** In den darauffolgenden Tagen wurde er regelrecht depressiv. So hatte er sich seinen Ferienanfang nicht vorgestellt. Man konnte seine äußeren Wunden sehen, die langsam verheilten, doch wie schwer sein Ego verletzt war, sah man ihm nicht an. Mit jedem Tag, an dem die Schmerzen nachließen, spürte er im Innersten einen immer stärker werdenden Wunsch, sich für diesen Tag zu rächen, an dem man ihn in einen dunkelbunten Tarnanzug verwandelt hatte. In den kommenden zwei Wochen der Bettruhe hatte er genug Zeit, um Hunderte verschiedene Möglichkeiten durchzuspielen, was er mit jedem Einzelnen anstellen würde. Eigentlich widersprach es seiner Natur, jemandem in irgendeiner Form Leid anzutun. Doch irgendwie wechselte seine Perspektive mit jedem Tag der Heilung. Wenn in seiner Schule jemand in die Mangel genommen wurde, war Duke einer der Ersten, der angewidert wegging, während andere noch lange Hälse machten, um zu sehen, wer den ersten Zahn verlor. Als einmal der kleine Brady in einer Steinschlacht auf dem Schulhof ein Auge verlor, war das Interesse der Schüler pervers groß. Für Wochen war er das Gesprächsthema und jeder konnte besser beschreiben, wie die blutwässrige Masse durch Bradys vorgehaltene Hand quoll. Mit gefesseltem Entsetzen standen sie mit geöffneten Mündern um ihn herum, ohne zu helfen. Das blutverschmierte Gesicht sah zum Wegrennen aus und man hätte sich von den Schreien die Ohren zuhalten müssen, aber keiner bewegte sich. Sie waren nur darum bemüht, alles aufs Video zu bekommen. Erst als Duke einen Lehrer holte, der sich den Schlamassel ansah, löste sich die Menge auf, erschrocken und dennoch fasziniert von der Situation. Für diesen Tag war der normale Unterricht hinfällig, da Schüler und Lehrer den Schock erst einmal verdauen mussten. Keiner konnte den Anblick von Brady abschütteln, der sich zwei Monate zu früh in ein Halloween Monster verwandelt hatte. Die Prügel, die Duke an jenem Tag in der Kiesgrube einstecken musste, veränderte sein ganzes vorherbestimmtes Leben, ohne dass er es ahnte. In den Tagen der Heilung schwor er sich, nie wieder ein Verlierer zu sein, nie wieder ein Opfer. Und nie wieder wollte er sich in einer Situation befinden, in der er nicht der Überlegene war. Er hasste sich dafür, dass er sich nicht gewehrt hatte und nur dalag, um sich verprügeln zu lassen. Immer wieder durchlebte er den demütigenden Moment der Hilflosigkeit. Doch je länger er darüber nachdachte, umso größer wurde der Wunsch, es den Sechs so wiederzugeben, wie sie es mit ihm gemacht hatten. Aber nicht mit blauen Flecken und einer gebrochenen Nase. Nein, jeder Einzelne sollte sterben. Schmerzhaft, überraschend und definitiv ohne Warnung.
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Ivon Schmerzen seinen Körper durchfluten. Die Abreibung, die er gestern in der Kiesgrube von seinen vermeintlichen „Freunden“ bekommen hatte, war heftig - zu heftig. In den Tagen der Heilung schwört er sich, nie wieder ein Opfer zu sein! Nie wieder ein Verlierer! Mit viel Einfallsreichtum und Finesse findet Duke Mittel und Wege, die perfekten Verbrechen zu inszenieren. Immer wieder findet er sich in Situationen wieder, die seine „dunkle Seite“ in ihm zum Handeln zwingen. Nur die Liebe kann ihn wieder auf die richtige Bahn bringen. Wird er diese finden? Das Buch nimmt den Leser mit auf eine spannende Reise quer durch die USA und begleitet Duke bei seiner Metamorphose vom schüchternen Jungen zum technisch versierten Computergenie, der mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und einer gehörigen Prise Gesellschaftskritik zu einem Bösewicht heranwächst, den man einfach mögen muss. Er gerät in einen Strudel von Gewalt, Liebe, Verlust, Abenteuern und der Suche nach sich selbst. Duke sucht nicht die Gewalt, aber sie findet ihn.
In Keene, einer kleinen verschlafenen Stadt in New Hampshire, herrscht das herrlichste Sommerwetter, doch Duke verkriecht sich in seinem abgedunkelten Zimmer. Er kann sich kaum bewegen, ohne dass Wellen
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Kapitel 1 W eiße Federwolken am Himmel und leises Vogelgezwitscher wirken beruhigend, wenn man im Schatten alter Bäume auf einem Waldboden liegt und Zeit hat, das Blau über einem zu betrachten. Feuchtwarme Waldgerüche und der intensive Duft von blühenden Wildblumen lassen einen entspannen. Gerade kündigte sich die Sonne an, um den neuen Tag zu begrüßen. Doch an einen Genuss der Umgebung war in diesem Moment nicht zu denken. Schweißüberströmt vor Schmerzen fiel es ihm schwer, die Schönheit des anbrechenden Sommertages zu genießen. In den letzten Stunden verlor er stetig Blut und mit den immer heftiger werdenden Schmerzen konnte er kaum noch klar denken. Im satten Grün der Wiesen und Felder kann man barfuß laufen, um die Kraft der Pflanzen in sich aufzusaugen. Doch jetzt in diesem Augenblick war es umgekehrt. Die Kraft verließ ihn tröpfchenweise und die Erde saugte sie auf. Er düngte mit seinem Blut den Waldboden. Ohne seinen Gürtel, den er vor nicht allzu langer Zeit bei einem Straßenfest gekauft hatte ironischerweise mit lebenslanger Garantie wäre er wohl schon verblutet. Am Oberschenkel hatte er sich das Bein damit abgebunden, um die Blutungen halbwegs zu stoppen. Die versprochene Garantie sollte nicht hier und sicherlich nicht heute enden. Unkontrolliert vor Schmerzen liefen ihm Tränen über sein verschmutztes Gesicht und hinterließen kleine helle Streifen. Er biss die Zähne zusammen und Wut breitete sich in ihm aus, dass er sich in solch einer bescheuerten Lage befand. Gedanken kreisten in seinem Kopf und er bemerkte nicht, dass sich Fliegen über die süße, rote Abwechslung hermachten, die am Acht-Dollar-Lederdruckverband noch immer hervorquoll. Ohne es bewusst wahrzunehmen, tauchte er langsam ab in Ebenen zwischen Traum und Halluzination. Bilder kamen aus den tiefsten Winkeln seines Gehirns. Hinter seinen geschlossenen Augen erschienen sie wie vor einer Kinoleinwand. Er konnte sich nicht wehren, konnte sich nicht mehr konzentrieren. Eine Situation, die ihm Sorgen bereiten sollte. Hatte er gerade die Eintrittskarte für die letzte Vorstellung gelöst? Lief hier gerade der Abspann? Das kann es nicht gewesen sein. Nicht jetzt, nicht so, nicht hier in diesem Wald. Er war doch erst 16. Mehr und mehr lose Bilder reihten sich im Delirium zu einem Film zusammen. Er reiste einige Jahre zurück. In sein Bewusstsein schoben sich Erinnerungen an jenen Tag, der sein Leben für immer verändern sollte. Kapitel 2 Duke lebte mit seinen Eltern in einem verschlafenen Ort mit knapp 22.000 Einwohnern, sechs Kirchen und einem kleinen Flugplatz: Keene in New Hampshire. Der Ort hatte einen eigenen Charme. Nicht zu groß, dass man verloren geht, aber auch nicht so klein, dass jeder jeden kennt. Die typische Kleinstadt eben, wo Tante-Emma-Läden schließen müssen, weil Konsum- Imperien alle anderen verdrängt haben und man die einzige Hauptstraße herausputzt, weil zufällig das Rathaus dort steht. Und damit sich eventuell auch einmal ein Tourist nach Keene verirrt, versuchte man irgendwie den Charme der alten Zeiten zu erhalten. Das Haus, in dem Duke mit seinen Eltern wohnte, war schon immer in Familienbesitz gewesen und das bereits seit den Tagen, als die Vorfahren, die ihre Wurzeln in Europa hatten, in die Neue Welt auswanderten, um hier einen Neuanfang zu wagen. Das Grundstück war umrahmt von hohen Bäumen, die einen kleinen Hang hinaufwuchsen. Ein glasklarer Fluss schlängelte sich im Bogen am Haus vorbei und hinterließ den Eindruck, dass man sich auf einer Halbinsel befände. Das Haus lag nicht zu weit weg vom geschäftigen Ortskern. Hier herrschte noch die Ruhe, die anderswo selten geworden ist. Hektik war im Haus unbekannt und in Keene selbst wurde es nur aufregend, wenn es mal ein Fest gab. Duke war ein dunkelblonder Junge, nett, unauffällig und mit nur wenigen Hobbys. Er war ein Langschläfer und Träumer. Ein Einzelgänger, voller Ideen, Fantasien und doch immer mit dem Hang zur Perfektion, wenn er etwas anpackte. Zweierlei Dinge hasste er: seinen Vater, speziell, wenn dieser betrunken war, und den sonntäglichen Kirchgang. Das eine war nur peinlich und das andere reine Zeitverschwendung. Sein Vater arbeitete als Gabelstaplerfahrer in einem der Truckterminals am Ortsrand und seine Mutter als Verkäuferin in einem Antiquitätengeschäft im neuen Colony Mill Einkaufszentrum. Nicht gerade die perfekten Vorbilder für Duke, der aber noch zu unbedarft war, um hier zu erkennen, was er für Verlierer-Eltern hatte. Somit beschränkten sich seine Idole auf zweidimensionale Kino-Helden. Mit zunehmendem Alter versuchte er mehr und mehr seinen Eltern aus dem Weg zu gehen. Es nervte ihn, ihre täglichen Streitereien ertragen zu müssen. Schon lange hatte er aufgegeben zu verstehen, warum sich erwachsene Menschen stundenlang über die harmlosesten Angelegenheiten streiten. Wo lag der Sinn darin, sich ständig anzubrüllen? Letztlich war der Alkohol an allem schuld und sein Vater wurde mit jedem Jahr seltsamer. Das Haus, das über all die Generationen immer gepflegt worden war, verfiel zusehends, vom Grundstück ganz zu schweigen. Kaum war sein alter Herr von der Arbeit zurück, fing das Trinken an. Solange genug Bier im Haus war, hing der Haussegen gerade. Sollte aber auch nur ein Tag die tägliche Betäubung ausfallen, war die Hölle los. In solchen Momenten versuchte er immer einen großen Bogen um seinen Vater zu machen. Allzu oft gab es Ausbrüche, die bei Duke farbenfrohe Hautverfärbungen hinterließen. Im Alter von 12 Jahren zog er es vor, sich auf den alten Dachboden des Hauses zu verkriechen. Dort roch es muffig, nach abgestandener Zeit und gelebten Abenteuern. Doch hier fand er Dinge, die 100 Jahre und länger dort lagen und darauf warteten, von ihm neu entdeckt zu werden. Jedes Teil hatte seine eigene Geschichte und war einmal wichtig im Leben seines Besitzers, bis die Zeit es entwertete und als unmodern einstufte. Duke fühlte sich wohl inmitten all diesem alten Zeug. Hier konnte er von Abenteuern träumen, die er einmal erleben wollte. Es war für ihn Geschichte zum Anfassen. Das Schönste war die originale Reisetruhe, mit der seine Urgroßeltern von Europa nach Amerika gekommen waren. Diese Truhe wurde ein Symbol für ihn: ein Sinnbild für Freiheit, Unerschrockenheit und Mut zur Veränderung. Jedes Mal, wenn er dieses alte Relikt berührte, machte es ihn nur entschlossener, irgendwann selber einmal diesen Ort zu verlassen und in die weite Welt zu gehen. Schon wenn er mit dem Finger über die alte Truhe strich und langsam den Staub zwischen den Fingern rollte, zauberte es ihm ein Lächeln auf sein Gesicht. Hier war er für sich und in seiner eigenen Welt. An einem anderen Tag fand er zwischen all den alten Sachen ein Taschenmesser, das von da an sein täglicher Begleiter werden sollte. Doch der coolste Fund wurde eine alte Karte aus Europa, die er in sein Zimmer hing und jedes Mal beim Betrachten wusste, dass er irgendwann eine große Reise unternehmen würde. Und immer wieder konnte er sich für Sachen begeistern, die auf andere wahrscheinlich alt und ausrangiert wirkten. Doch er fühlte, dass diese vergessenen Dinge in einem anderen Leben eine wichtige Bedeutung hatten. *** Die Wandlung des ruhigen, fast scheuen Jungen zu einem selbstbewussten jungen Mann wurde durch ein Ereignis in Gang gesetzt, welches er mit 14 Jahren hatte. Die Sommerferien hatten gerade erst begonnen, als an einem schwül-warmen Vormittag ein paar Jungs vor seiner Garage erschienen, in der er sein Fahrrad putzte. »Duke, du alte Pfeife, hör auf dein Fahrrad zu putzen und komm mit uns mit.« Duke bildete mit seiner Hand einen schützenden Schirm gegen die Sonne, um zu erkennen, wer ihn rief. Es waren Typen aus seiner Klasse. Obwohl er alle Sechs schon länger kannte, hatte er nie zu ihnen gehört. Er war ausgeschlossen vom „harten Kern“. Und nun standen sie plötzlich vor seiner Garage und forderten ihn auf, mit ihnen loszuziehen. »Was habt ihr vor?«, fragte Duke vorsichtig. »Wir fahren in die stillgelegte Kiesgrube. Komm mit«, rief Kevin. »Was wollt ihr dort machen?«, wollte Duke wissen. »Nun hab dich nicht so albern. Oder hast du etwas Besseres vor?«, provozierte ihn Phil. Duke fragte sich, was die Gruppe wirklich beabsichtigte. Er wollte sich keine Schwierigkeiten einhandeln, wenn sie etwas vorhatten, das nach Ärger stank. Doch als Feigling wollte er auch nicht dastehen. Nicht, dass er unbedingt Kumpel brauchte, doch die Ferien total alleine zu verbringen war eventuell auch nicht wirklich verlockend. Kurzentschlossen fuhr er mit ihnen mit. Eventuell werden die Sommerferien ja doch spannender als erwartet, dachte er. Nach fünf Meilen erreichten sie die vollgelaufene Kiesgrube. Der alte Schwimmbagger war schon von Weitem zu sehen und rostete vor sich hin. Ein Monster aus einer anderen Zeit. Am Bagger angekommen, standen sie im Schatten und schauten zu den riesigen Schaufeln hoch, die mahnend in den Himmel ragten. Nur vom bloßen Anschauen kribbelte es unter Dukes Kopfhaut. Dann baute sich Phil grinsend vor ihm auf. »Wir haben ein Aufnahmeritual: Rauf auf den Bagger und von der letzten Schaufel in den See springen. Dann gehörst du zu uns.« Duke schüttelte den Kopf. »Jungs, das sind bestimmt 45 Fuß. Den Sprung überlebt keiner.« »Wir leben noch«, lachte Phil und schubste ihn dabei leicht von hinten. Wie bekloppt ist man denn da hochzuwollen, dachte sich Duke. Es sollte eine Probe werden, um den Zusammenhalt der Truppe zu festigen. Was eignet sich dazu besser als etwas Extremes, das zusammenschweißt? Und wenn man davon Narben bekommt, dann sind das nur Trophäen. Doch so nötig hatte er ihre Gesellschaft nun auch nicht und dachte sich: lieber ein gesunder Feigling als ein mutiger Krüppel. »Sorry, Jungs, aber das ist nichts für mich«, erklärte er ihnen. »Das ist nichts für mich«, äffte Kevin ihn nach. »Aussteigen ist nicht, hier wird sich nicht gedrückt«, meinte Martin. »Los, du jämmerliche Flasche, rauf da«, brüllte Steve ihm ins Gesicht. Duke spürte, dass der Ton deutlich schärfer wurde und wich vorsichtig einige Schritte zurück. »Kein Grund, uncool zu werden. Und nebenbei, ich muss nicht Teil eurer Clique werden.« Er hatte gerade vor, auf sein Fahrrad zu steigen, als er von hinten so kräftig geschubst wurde, dass er über seinen Drahtesel flog und im Dreck landete. »Oh, hat das wehgetan?«, fragte ihn Joe spöttisch. Alle anderen fingen an zu lachen. Duke realisierte gerade, dass keiner von ihnen wirklich vorhatte, mit einem Schwächling wie ihn die Gruppe zu vergrößern. Er sollte lediglich der Trottel der Woche werden. Sie waren von Anfang an davon überzeugt, dass er die Mutprobe nicht antreten würde. Sie wussten, dass er sich gerne überall anschloss, aber sich dünnmachte, bevor es zu Problemen kam. Duke war immer schlau genug gewesen, Ärger zu riechen und ihm aus dem Weg zu gehen. Bisher jedenfalls. »Tja, Duke, dann müssen wir dir wohl eine Abreibung verpassen«, sagte Steve lapidar. »Ja, jetzt gibt es eins auf die Fresse«, sang Tim im hohen Ton. Martin baute sich drohend vor ihm auf und sagte: »Also, letzte Chance auf den Bagger zu klettern.« Doch Duke sah nicht ein, sich einschüchtern zu lassen. Er hatte seine Entscheidung schon gefällt und wollte sich nicht bei einer dummen Mutprobe verletzen. An diesem Tag sollte sich alles ändern. Ihm wurde schlagartig bewusst, dass er hier in größten Schwierigkeiten war und die Sechs ernsthaft vorhatten, das, was sie sagten, auch umzusetzen. Nun hatte er zwei Möglichkeiten: entweder den Selbstmörderbagger hinaufzuklettern und für immer zum harten Kern zu gehören oder einen Trommelwirbel von Gliedmaßen über sich ergehen zu lassen. Nach Abschätzen der Überlebenschancen, Genickbruch oder blaue Flecke, entschloss er sich für Letzteres. Doch zu einfach würde er es ihnen nicht machen, schwor er sich. Er konnte in ihren Gesichtern ablesen, wie sie sich darauf freuten, ihn fertigzumachen. Als er sah, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballten, unternahm er einen kurzen Fluchtversuch. Dieser endete drei Sekunden später. Die Abreibung war heftig. Zu heftig. Zusammengerollt versuchte er sich so gut wie möglich vor den Schlägen zu schützen, doch gegen die Jungs hatte er nicht die geringste Chance. Nie gekannter Hass prallte auf ihn nieder. Gedemütigt und hilflos ließ er die Tritte und Schläge ohne Gegenwehr über sich ergehen. Der einzige Gedanke, den er hatte, war sich so gut es ging zu schützen und alles zu ertragen, bis es vorüber war. Nach Dukes Zeitempfinden dauerte es eine Ewigkeit, bis sie von ihm abließen. Die Form seiner Nase hält er heute für gelungen und schön, auch wenn er damals diese schmerzhafte „Schönheitsoperation“ mit einem Stiefel, Marke Riverbreaker, Größe 7, gerne vermieden hätte. In dem Moment, wo sie aufhörten auf Duke einzutreten, war nichts mehr wie vorher. Irgendetwas verlor er im Innersten, sie hatten etwas aus ihm herausgeprügelt. Er wusste nicht, was es war, doch von nun an lag ein Schatten auf seiner Seele. Wenn bis dahin 1000 kleine Kerzen das Gute in seinem Inneren erhellten, blies an diesem Tag ein kalter Wind die Mehrzahl davon aus und ließ etwas Dunkles in ihm zurück. Er sah die Welt nun aus einer anderen Perspektive der eines Verlierers. Duke lag im Staub und krümmte sich vor Schmerzen. Nun zogen alle ihre Handys, um ein Foto von ihm zu machen, wie er verletzt dalag und litt. Johlend nahm Kevin das Fahrrad von Duke und schmiss es im hohen Bogen in den See. Genau das, was er jetzt noch gebrauchen konnte. 20 Sekunden später stiegen sie lachend auf ihre eigenen Fahrräder und kümmerten sich nicht mehr um ihn. Keiner der Sechs drehte sich noch einmal zu ihm um, als sie davon radelten. Nachdem er einige Minuten im Dreck gelegen hatte, wurde es Zeit, sich aufzurappeln und nach Hause zu gehen. Er reinigte sich ein wenig am See und ging stinksauer heimwärts. Der Weg zurück war schmerzhaft, alles tat ihm weh und er lief mit gesenktem Kopf. Dieser hing ihm soweit herunter, dass ein Fremder wahrscheinlich gedacht hätte, er wäre ohne Nackenmuskeln zur Welt gekommen. Doch niemand sah, wie er sich nach Hause schlich. Somit blieb ihm wenigstens diese Demütigung erspart. Seine Ausrede den Eltern gegenüber war, dass er eine Treppe hinuntergefallen sei. Dies war zwar nicht allzu glaubhaft, doch sein Stolz und sein ihm selbst gegebenes Versprechen, die Umstände zu verheimlichen, waren größer als der Schmerz. Doch ob er die Wahrheit gesagt hätte oder nicht, es spielte kaum eine Rolle. Die Anteilnahme seiner Eltern bestand nur darin, dass sein Vater ihn einen Idioten nannte mit dem Ratschlag, die Augen aufzumachen, wenn er seine Beine benutzte. Selbst seine Mutter war nicht viel feinfühliger in ihrer Wortwahl. Duke hatte an diesem Tag kurz das Gefühl, adoptiert zu sein. Selbst als sie ihn ins Krankenhaus fuhren, wo man ihm die Nase richtete, blieb er bei seiner Story, die ihm der Weißkittel aber nicht abkaufte. Doch Duke war zu stolz zuzugeben, dass er verprügelt worden war. *** In den darauffolgenden Tagen wurde er regelrecht depressiv. So hatte er sich seinen Ferienanfang nicht vorgestellt. Man konnte seine äußeren Wunden sehen, die langsam verheilten, doch wie schwer sein Ego verletzt war, sah man ihm nicht an. Mit jedem Tag, an dem die Schmerzen nachließen, spürte er im Innersten einen immer stärker werdenden Wunsch, sich für diesen Tag zu rächen, an dem man ihn in einen dunkelbunten Tarnanzug verwandelt hatte. In den kommenden zwei Wochen der Bettruhe hatte er genug Zeit, um Hunderte verschiedene Möglichkeiten durchzuspielen, was er mit jedem Einzelnen anstellen würde. Eigentlich widersprach es seiner Natur, jemandem in irgendeiner Form Leid anzutun. Doch irgendwie wechselte seine Perspektive mit jedem Tag der Heilung. Wenn in seiner Schule jemand in die Mangel genommen wurde, war Duke einer der Ersten, der angewidert wegging, während andere noch lange Hälse machten, um zu sehen, wer den ersten Zahn verlor. Als einmal der kleine Brady in einer Steinschlacht auf dem Schulhof ein Auge verlor, war das Interesse der Schüler pervers groß. Für Wochen war er das Gesprächsthema und jeder konnte besser beschreiben, wie die blutwässrige Masse durch Bradys vorgehaltene Hand quoll. Mit gefesseltem Entsetzen standen sie mit geöffneten Mündern um ihn herum, ohne zu helfen. Das blutverschmierte Gesicht sah zum Wegrennen aus und man hätte sich von den Schreien die Ohren zuhalten müssen, aber keiner bewegte sich. Sie waren nur darum bemüht, alles aufs Video zu bekommen. Erst als Duke einen Lehrer holte, der sich den Schlamassel ansah, löste sich die Menge auf, erschrocken und dennoch fasziniert von der Situation. Für diesen Tag war der normale Unterricht hinfällig, da Schüler und Lehrer den Schock erst einmal verdauen mussten. Keiner konnte den Anblick von Brady abschütteln, der sich zwei Monate zu früh in ein Halloween Monster verwandelt hatte. Die Prügel, die Duke an jenem Tag in der Kiesgrube einstecken musste, veränderte sein ganzes vorherbestimmtes Leben, ohne dass er es ahnte. In den Tagen der Heilung schwor er sich, nie wieder ein Verlierer zu sein, nie wieder ein Opfer. Und nie wieder wollte er sich in einer Situation befinden, in der er nicht der Überlegene war. Er hasste sich dafür, dass er sich nicht gewehrt hatte und nur dalag, um sich verprügeln zu lassen. Immer wieder durchlebte er den demütigenden Moment der Hilflosigkeit. Doch je länger er darüber nachdachte, umso größer wurde der Wunsch, es den Sechs so wiederzugeben, wie sie es mit ihm gemacht hatten. Aber nicht mit blauen Flecken und einer gebrochenen Nase. Nein, jeder Einzelne sollte sterben. Schmerzhaft, überraschend und definitiv ohne Warnung.
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